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„Armut ist kein gottgewollter Plan“ – Westfälische Präses sprach beim Industrie- und Handelsclub in Bielefeld

Annette Kurschus Praeses der evangelischen Kirche von Westfalen u Vors des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland – Foto Stephan Schuetze / Dortmund / honorarfrei

Bielefeld. ‚Auf der Suche nach Gerechtigkeit in Zeiten des Mangels‘ lautete der Titel des Vortrags, mit dem die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, im Bielefelder Industrie- und Handelsclub das Problem von Armut in der gegenwärtigen Gesellschaft beleuchtete. Sie stellte ihrem Vortrag ein biblisches Zitat aus dem 5. Buch Mose voran: „Es sollte kein Armer unter euch sein“ (5. Mose 15,4).

Armut werde gleichwohl immer Teil der gesellschaftlichen Realität bleiben, sagte die Leitende Geistliche der westfälischen Kirche. Auch das stelle die Bibel, ebenfalls im 5. Buch Mose, klar: „Es werden allezeit Arme sein im Lande“ (5. Mose 15,11). Das Paradies, der Garten Eden, den der Mensch bearbeite, um gut davon leben zu können, und in dem es keinerlei Mangel sondern die Fülle für alle gebe, sei eine Utopie, so Kurschus. Sie gehöre zur Humanität des Menschen. Doch die Vorstellung von diesem paradiesischen Ursprung der Menschheit sei kein romantischer Rückblick, sondern vielmehr handfeste Kritik an der Gegenwart.

Armut, so die Präses, sei kein gottgewollter höherer Plan. „Armut ist vor allem eines: schlecht. Sie ist ein Übel und ein Unrecht, und sie gehört beseitigt. Da gibt es kein Vertun“, sagte Annette Kurschus. Sie prangerte insbesondere das dauerhafte Problem der Kinderarmut an: „Wir reden jetzt nicht seit Jahren, sondern seit Jahrzehnten von der eklatanten Kinderarmut, die die jungen Leben schädigt und die zugleich ein volkswirtschaftlicher Wahnsinn ist.“ Bisherige staatliche Unterstützungsleistungen für Familien verhinderten diese Kinderarmut nicht, sagte Kurschus. Sie kämen nicht bei allen Familien an und seien zu gering bemessen.

Generell wiederholte die Präses der westfälischen Kirche, die auch Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist, ihre Forderung, die wirtschaftlichen Belastungen, die mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen einher gehen, gerechter zu verteilen. „Gerechtigkeitsfragen sind Verteilungsfragen“, sagte die Theologin. Dabei gehe es weder um Sozialneid noch um ‚Reichen-Bashing‘, bekräftigte Kurschus. Aber: „Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache.“ So sei es gut, wenn Bund und Länder in der gegenwärtigen Krise darauf achteten, dass wirtschaftliche Entlastungen nicht allgemein mit dem „Gießkannenprinzip“, sondern stattdessen gezielt erfolgten.

Armutsbekämpfung bezeichnete die westfälische Präses als gesellschaftliche Daueraufgabe. Sie sei zudem eine Bedingung des gesellschaftlichen Friedens. „Krise und Knappheit sind besonders gewichtige Gründe dafür, den sozialen Zusammenhalt zu stärken – und das bedeutet: Armut lindern, besser noch verhindern“, sagte Kurschus. „Wo die Verarmung in einer Gesellschaft eskaliert, nimmt die Verzweiflung zu. Mit der Verzweiflung wächst die Gewalt, mit der Gewalt die Angst – und mit all dem verschwindet die Demokratie.“

Die Präses verwahrte sich gegen die Floskel von den ‚sozial Schwachen“. Arme Familien seien vielmehr meist sozial außerordentlich stark. „Es ist eine riesige soziale Stärke, jeden Cent umdrehen zu müssen und sein Leben so zu organisieren, dass die Kinder nicht ausgelacht werden und ihre Würde behalten“, sagte Annette Kurschus.

Nicht zuletzt angesichts der Klimakrise brauche man demokratische Verabredungen darüber, wie auch diejenigen, die viel Geld hätten, sich verbindlich einschränken würden, postulierte die Theologin. „Dies ist kein Populismus. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Dies würde verhindern, dass die Populisten noch mehr Zulauf bekommen.“