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„Der Antisemitismus ist nie aus der Mitte der Gesellschaft ausgewandert“ – Pfarrer Martin Mustroph fordert die Kirche zum Abschied von antijüdischen Stereotypen auf

Der ehemalige Pfarrer der Thomaskirchengemeinde, Martin Mustroph, fordert auch seine eigene Kirche auf, dicke Bretter in Theologie, Erwachsenenbildung und Unterricht zu bohren, um zu einem zeitgemäßen Verständnis des Judentums beizutragen. Foto: privat

Münster. Die Rede von Martin Mustroph, dem ehemaligen Pfarrer der Thomaskirchengemeinde und Co-Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Münster, hat bei der Demonstration gegen rechts am 16. Februar große Resonanz gefunden. Wie bewertet Mustroph im Nachhinein die größte Demonstration, die je in Münster stattgefunden hat, und was können die evangelische Kirche und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegen den stark ansteigenden Antisemitismus tun? Darüber sprach Gerd Felder mit Martin Mustroph.

Herr Mustroph, Münsters große Demonstration gegen rechts liegt nun schon eine gewisse Zeit zurück. Wie bewerten Sie sie aus der Sicht von heute?

Diese gewaltige Demonstration war ein klares Bekenntnis zur Demokratie, gegen Antisemitismus, Rassismus und die AfD, die an diesem Tag im Rathaus ihren Jahresempfang feierte. Es war ein grandioses Zeugnis für eine solidarische Gesellschaft, dass Menschen aus einem so breiten Spektrum – Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, zivilgesellschaftliche Gruppen – gemeinsam Flagge gezeigt haben.

Das breite Spektrum der Veranstaltung ist auf der einen Seite begrüßenswert, auf der anderen Seite gab es aber auch Kritik an so manchen teilnehmenden Gruppen und ihren Redebeiträgen….

Manche Reden waren für mich schwer erträglich, sowohl von der Art des Sprechens wie von den Inhalten her, insbesondere die, in denen völlig kenntnisfrei und unreflektiert eine Israelfeindlichkeit zum Ausdruck kam. Es gehört aber zum Wesen einer solchen Massenkundgebung, dass auch solche Gruppen, mit denen man selbst nicht gerade sympathisiert, teilnehmen und sich äußern können.

Im Vorfeld der Demonstration hatte es heftige Querelen gegeben, weil der Veranstalter, das Bündnis „Keinen Meter den Nazis“, keine Vertreter von CDU und FDP und auch nicht Oberbürgermeister Markus Lewe sprechen lassen wollte. Wie stehen Sie dazu?

Als ich am Abend vor der Kundgebung aus Berlin zurückkam und davon in der Zeitung las, war ich entsetzt und habe ernsthaft überlegt, ob ich aus Protest meine Beteiligung zurückziehe. Vor allem der direkt von der Bürgerschaft gewählte Oberbürgermeister hätte unbedingt zu Wort kommen müssen. Ich habe meinen Unwillen darüber auch in meinem Redebeitrag auf der Kundgebung thematisiert und dafür ein paar Buhrufe geerntet, insgesamt aber überwältigenden Applaus bekommen.

Wie beurteilen Sie den Schritt der CDU, den Aufruf zur Demonstration deswegen zurückzuziehen?

Das war schade und ein bisschen kleinkariert. Ich hätte das nicht so gehandhabt, fand es aber souverän, dass der Oberbürgermeister zusammen mit Amtskollegen aus dem Münsterland an der Demo teilgenommen hat. Das Anliegen der Kundgebung, die Grundsätze unserer Demokratie zu verteidigen, ist nämlich größer und wichtiger als kleinliches Parteiengezänk.

Sollen die Demonstrationen in Münster und ganz Deutschland Ihrer Meinung nach noch eine Zeit weitergehen, oder sollen die Teilnehmer aus ihrem Engagement eher den Schluss ziehen, in politische Parteien einzutreten?

Die Demonstrationen in Münster und in ganz Deutschland haben ein Bewusstsein dafür geweckt, dass man Demokratie leben und aktiv gestalten muss. Die Parteienverdrossenheit und Politikmüdigkeit der letzten Jahre waren schwer zu ertragen, aber das immer stärkere Aufkommen der AfD hat die Menschen aufgerüttelt. Es ist jetzt die Zeit, aufzubrechen, sich im persönlichen Umfeld in Diskussionen einzumischen und politische Veranstaltungen aufzusuchen. Und natürlich wäre es sehr wünschenswert, wenn die Leute sich in Parteien engagierten. Demos sind immer anlassbezogen und können nicht endlos fortgesetzt werden.

Worin sehen Sie denn die konkrete Wirkung solcher Demonstrationen wie in Münster?

Die AfD wird ernsthaft überlegen, ob sie den nächsten Jahresempfang wieder in Münster veranstaltet. Irgendwann wird sie wohl kapieren: Wir sind hier nicht willkommen. Jetzt schon kann man sagen, dass der AfD durch die vielen beeindruckenden Demonstrationen die Flügel gestützt worden sind. Das ist schon mal ein Erfolg. Wichtig ist aber auch die Selbstvergewisserung der großen, oft schweigenden Mehrheit. Die soll gestärkt werden und spüren, dass sie alles andere als ein kleines Häuflein ist. Auch wenn die Radikalen lautstark schreien „Wir sind das Volk!”, steht die Mehrheit der Bevölkerung zur Demokratie.

Enthält die – zweifelsohne positive – Selbstvergewisserung aber nicht die Gefahr, dass sich eine neue Blase der Wohlmeinenden bildet und die AfD-Befürworter sich dadurch noch mehr bestärkt fühlen und sich noch stärker abkapseln?

Die hundertprozentig Überzeugten, der harte Kern, wird sich womöglich noch enger zusammenschließen und abkapseln, aber ab einem gewissen Moment kippt diese Entwicklung. Vor allem aber sollen die Unschlüssigen, Unsicheren und Protestwähler wissen, dass sie, wenn sie AfD wählen, keiner Alternative, sondern Feinden der Demokratie ihre Stimme geben. Die Verunsicherten können durch die großen Demonstrationen ermutigt und bestärkt werden, sich den demokratischen Kräften zuzuwenden.

Seit dem 7. Oktober ist die Zahl der antisemitischen Gewalttaten in Deutschland exorbitant angestiegen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat gesagt, er erkenne sein Land nicht mehr wieder. Geht es Ihnen genauso?

Die entsetzlich vielen antisemitischen Straftaten nach dem barbarischen Hamas-Massaker zeigen eine blinde Täter-Opfer-Umkehrung. In dieser Sichtweise sind die Palästinenser immer die Opfer und die Israelis immer die Täter. Dabei wusste die Hamas ganz genau, dass ihr brutaler Überfall einen sehr heftigen Gegenschlag Israels auslösen würde. Diesen hat die Hamas nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern bewusst provoziert, um Israel vor der Weltöffentlichkeit vorzuführen. Zu diesem obszönen Spiel gehört, dass für die Hamas das Leben der eigenen Bevölkerung nicht, rein gar nichts zählt. Es gibt nichts, was ihren Terror rechtfertigen könnte. Das ist reiner Judenhass. Dass das von manchen in Deutschland nivelliert und relativiert, gar gefeiert wird, ist schlimmster Antisemitismus.

In den Wochen nach dem 7. Oktober gab es in Deutschland pro-israelische und pro-palästinensische Demonstrationen, aber die pro-palästinensischen Demos waren wesentlich besser besucht. Ärgert Sie das?

Ich bin enttäuscht und entsetzt, dass die Demonstrationen für Israel relativ klein geblieben sind. Immerhin haben einige Politiker sehr entschiedene Worte gefunden; bestes Beispiel ist Wirtschaftsminister Robert Habeck. Aber aus der Kulturszene und den linken, feministischen und queeren Kreisen war eher ein „dröhnendes Schweigen“ zu vernehmen. Auch von der Kirche hätte ich deutlichere Worte der Solidarität erwartet. Rühmliche Ausnahme war die damalige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus, die klar und deutlich die Hamas als Aggressor benannt hat. Der Vatikan hat dagegen ebenso herumgeeiert wie der Weltkirchenrat.

Kürzlich hat ein Vorfall bei der Berlinale Entsetzen ausgelöst, als mehrere Preisträger der Filmfestspiele am Ende den Staat Israel scharf angegriffen und ihm unter anderem „Genozid“ und eine Politik der Apartheid vorgeworfen haben. Wie bewerten Sie das?

Dass Künstler sich israelkritisch äußern, ist an sich nicht verwerflich; die Berlinale war immer ein politisch engagiertes Festival. Aber es gilt zu unterscheiden zwischen einer israelkritischen und einer israelfeindlichen beziehungsweise antisemitischen Haltung. Darauf hätte die Veranstaltungsleitung viel besser vorbereitet sein müssen. Ich hätte mir gewünscht, dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner, die beide anwesend waren, nicht geklatscht, sondern sofort protestiert hätten. Immerhin gab es auch ausgewogene Stimmen, die allerdings angesichts der schrillen Töne in den Medien weitgehend unter den Tisch gefallen sind.

Darf man Israel und insbesondere seine Regierung auch als Deutscher kritisieren?

Auch als Deutscher darf man durchaus Kritik an der Politik Israels äußern, aber wir sollten dabei sehr sensibel auf unseren Ton und unsere Motivation achten. So sehr ich Israels Reaktion auf den grausamen Hamas-Angriff verstehe und weiß, dass die israelische Armee im Gegensatz zu der Hamas Rücksicht auf die palästinensische Zivilbevölkerung nimmt, so frage ich doch, welches Ziel die Kriegsführung in Gaza hat und wie die humanitäre Katastrophe beendet werden kann. Hilfreich für die Entscheidung, ob eine Kritik am Staat Israel schon antisemitisch ist, ist die sogenannte 3-D-Regel: Äußerungen zur Politik Israels sind antisemitisch, wenn erstens an Israel Doppelstandards herangetragen werden, es also in der Menschenrechtsfrage strenger beurteilt wird als die arabischen Nachbarstaaten, wenn zweitens eine Delegitimierung Israels erfolgt, ihm also das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht abgesprochen wird, was drittens oft mit einer Dämonisierung einhergeht. Denken Sie nur an den skandalösen Vergleich, den der brasilianische Staatspräsident Luis Ignacio Lula da Silva kürzlich zwischen dem Handeln Israels und dem Holocaust gezogen hat.

Was kann die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit noch mehr gegen den stark aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland tun?

Vor allem schulische und außerschulische Bildung, Aufklärung und Information. Begegnung in den Schulen zu ermöglichen ist ganz wichtig. Deshalb ist auch der Schulabteilungsleiter der Bezirksregierung in unserem Vorstand. Mit ihm befinden wir uns im ständigen Austausch über Antisemitismus in der Schule und haben eine direkte Rückmeldung von Lehrkräften. Seit Jahren vergeben wir den Dr.-Julius-Voos-Preis, der junge Menschen auszeichnet, die sich in besonderer Weise mit der Erinnerungskultur befassen und mit dem Antisemitismus auseinandersetzen. Verstärken wollen wir den Trialog zwischen Muslimen, Juden und Christen in Münster, etwa mit trialogischen Führungen im Dom.

Der jüdische Historiker Michael Wolffsohn hat unsere „Rituale, Platten und Platitüden, gedankenlos vorgetragene Gedenk-Substanz“ heftig kritisiert. Hat er recht?

Diese flache Generalkritik ist selbst eine Plattitüde. Natürlich besteht immer die Gefahr, dass bestimmte Rituale sich entleeren und ins Leere laufen. Doch wurden unsere Gedenkveranstaltungen, etwa zur Reichspogromnacht in der Synagoge, zum Holocaust-Gedenktag in der Apostelkirche und am Zwinger oder zur Deportation nach Riga an der Gedenktafel Gertrudenhof auch vor dem 7. Oktober stark besucht. Mit ihnen tragen wir dazu bei, dass Ereignisse der NS-Zeit im Bewusstsein der Menschen verankert bleiben. Jedes Gedenken steht aber vor der Herausforderung, Rituale in Format und Inhalt lebendig zu gestalten; sonst laufen sie sich tot. Gibt man aber diese Gedenktage, -orte und -formate auf, besteht die Gefahr, dass damit die Sache selbst aufgegeben wird.

Wie schätzen Sie den linken Antisemitismus in den akademischen Milieus ein?

Gerade in akademischen Milieus wird Israel gern als Kolonialstaat betrachtet – und das, obwohl seine Gründung auf einem UNO-Beschluss basiert und nicht auf Okkupation. „Kolonialstaat“ und „Apartheidsstaat“ sind zu linken Kampfbegriffen geworden, die der historischen und politischen Situation nicht gerecht werden. Das nennt man „israelbezogenen Antisemitismus“. Wie sagt die jüdische Autorin Mirna Funk? „Der Antisemitismus passt sich immer geschmeidig dem Zeitgeist an.“

Hat der Antisemitismus in Deutschland mittlerweile sogar die Mitte der Gesellschaft erreicht?

Was heißt „erreicht“? Der Antisemitismus ist nie aus der Mitte der Gesellschaft ausgewandert. Wie in allen Milieus hatte und hat er auch in der bildungsbürgerlichen Mittelschicht seinen festen Platz. Sie glauben nicht, was ich mir nach mancher Predigt über einen alttestamentlichen Text anhören musste: „Warum predigen Sie immer noch über diese alten Viehhändler- und Zuhältergeschichten?“ Das ist NS-Jargon. Oder: „Warum halten wir immer noch am Alten Testament mit seinem ‚Rachegott‘“ fest? Dass Jesus als Jude geboren und gestorben ist, gelebt und geglaubt hat, ist vielen Christinnen und Christen gar nicht bewusst, – und sie wollen es auch nicht wissen. Auf der anderen Seite muss aber auch deutlich gesagt werden, dass das Interesse an christlich-jüdischen Themen in den letzten Jahren stark zugenommen hat.

Und was kann die evangelische Kirche gegen den Antisemitismus tun?

Zunächst einmal sollten wir unsere Hausaufgaben machen und antijüdische Stereotypen in den eigenen Reihen und der eigenen Tradition wahrnehmen. Immer noch dient das Judentum als dunkle Folie, um den christlichen Glauben umso heller strahlen zu lassen. Immer noch wird die vermeintlich starre Gesetzlichkeit des Judentums bemüht, um die „Freiheit eines Christenmenschen“ zu preisen. Hier gilt es, in Theologie, Erwachsenenbildung und Unterricht dicke Bretter zu bohren. Auch der Gott, der in der hebräischen Bibel bezeugt wird, ist der Gott der Liebe und Barmherzigkeit. Zudem kann die Kirche Räume der Begegnung eröffnen, zu einem zeitgemäßen Verständnis des Judentums beitragen, Führungen in der Synagoge – und auch in der Moschee – vermitteln, der jüdischen Gemeinde Glück- und Segenswünsche zu ihren Festen zukommen lassen – und vor allem angesichts des Rechtsextremismus offen und entschieden Solidarität mit Jüdinnen und Juden bekunden – ohne Wenn und Aber.