Münster. Seit Beginn des Jahres 2024 gibt es in der Evangelischen Landeskirche von Westfalen einen neuen Typ von Pfarrstellen, die sogenannten „Vertretungspfarrstellen“. Westfalenweit wurden 29 dieser Stellen eingerichtet, mit denen unbesetzte Pfarrstellen, die etwa fünf Prozent ausmachen, zeitweise versorgt werden sollen. Susanne Stock aus Greven ist eine der Vertretungspfarrerinnen.
Susanne Stock wurde 1963 in Kamen geboren und wuchs in ihrer Heimatstadt auf. Sie stammt aus einer kirchenfernen Familie, und nachdem sie konfirmiert worden war, legte sie für sich fest, dass ihre heimatliche Pauluskirche sie nie wiedersehen sollte. Trotzdem machte sie Jugendarbeit in Bergkamen-Overberge, nahm an einer Jugendbibelgruppe teil und begleitete Jugendfreizeiten. Im Jahr 1982 legte sie am Städtischen Gymnasium Kamen das Abitur ab. Danach absolvierte sie erst einmal eine Gärtnerlehre und wollte Gartenbau studieren. „Ausgerechnet mein kirchlich distanzierter Vater aber fragte mich dann: Warum studierst du eigentlich nicht Theologie, wo Du so oft in die Kirche rennst?“ Susanne Stock konnte sich das zunächst nicht vorstellen, entschied sich allerdings letztlich um. So kam es, dass sie ab 1984 in Münster, Bonn, Heidelberg und Bochum Evangelische Theologie studierte und 1991 ihr erstes Examen ablegte. Das Vikariat machte sie danach ab 1993 in Bochum-Gerthe und anschließend ein Sondervikariat im Krankenhaus. Daran schloss sich der Entsendungsdienst in den Bochumer Stadtteilen Langendreher-West und Weitmar-Mark an und setzte sich bis zum Jahr 2000 fort, weil Susanne Stock wegen der Geburten ihrer Kinder keine volle Pfarrstelle übernehmen wollte.
Im Jahr 2000 zog es sie zurück nach Kamen, wo sie zusammen mit ihrem Mann ein Haus kaufte. So führte die zweite Phase ihre Entsendungsdienstes sie genau dorthin, wohin sie nie wieder hatte zurückkehren wollen: in ihre heimatliche Pauluskirchengemeinde. 2009 wechselte sie – immer noch im Rahmen des Entsendungsdienstes – nach Unna-Königsborn. Als dort eine Pfarrstelle frei wurde – in einer Gemeinde, die sich zu diesem Zeitpunkt in einem Vereinigungsprozess mit ihren Nachbargemeinden befand – weckte das Susanne Stocks Interesse. „Ich fand das spannend und wollte diesen Prozess gern begleiten“, erläutert sie. Im Jahr 2011 trat sie ihre erste Pfarrstelle an, und zugleich begann für sie damit eine aufregende Zeit mit vielen Veränderungen. „Es war ein Kampf um Verständnis, und vor allem die Corona-Zeit war eine völlige Veränderung und Überforderung“, urteilt sie im Rückblick. Parallel dazu lief seit 2011 der Vereinigungsprozess der Gemeinden, der mit einigen Strukturanalysen verbunden war: Als erste Gemeinde im Kirchenkreis Unna nahm die Evangelische Gemeinde Unna-Königsborn eine Gebäudeanalyse vor und stellte schnell fest: Gebäude abzugeben stellte für sie zwar eine Überforderung dar, weil sie noch nicht wirklich zusammengewachsen war, aber trotzdem gab es dazu keine Alternative. So kam es zu Strukturänderungen, „aber wir blieben hinter der Entwicklung zurück, und uns gelang nicht der große Wurf“, räumt die Pfarrerin ein.
Bis 2023 arbeitete sie in Unna-Königsborn. Dann beschäftigten sie immer stärker Gedanken wie: Wie will ich im Alter leben? Der frühere Bremer Bürgermeister Henning Scherf, der in einem Mehrgenerationen-Projekt lebt, hatte sie bei einer Predigt so fasziniert, dass für sie feststand, dass sie nicht irgendwann vereinsamen, sondern mit ihren Kindern im Münsterland zusammenziehen wollte. So traf es glücklich zusammen, dass ihr älterer Sohn bereits in Greven wohnte und im Jahr 2024 von der Landeskirche Vertretungspfarrstellen eingerichtet wurden. „Hintergrund der Maßnahme ist: Das Personal wird immer knapper, die Gemeinden immer größer, und auch die Anforderungen steigen“, erläutert die Pfarrerin. „Manche Pfarrstellen können auch nicht mehr besetzt werden und bleiben auf Dauer vakant.“ Die Vertretungspfarrstellen, die deswegen geschaffen wurden, sind auf eine Dauer von höchstens acht Jahren begrenzt. Durch diese Pfarrstellen sollen längere Vakanzen, etwa durch Krankheiten oder Schwangerschaften, abgedeckt werden. „Die Übernahme einer solchen Vertretungspfarrstelle erfordert hohe Flexibilität“, unterstreicht Susanne Stock. „Da ist vieles spontan und ergibt sich erst in einem dynamischen Prozess.“ Vieles hänge auch davon ab, was vor Ort von einem erwartet werde, ergänzt sie. In der Regel übernehme man als Vertretungspfarrerin die Gottesdienste und die Kasualien sowie die Veranstaltungen. An den Presbyteriumssitzungen nehme man von Fall zu Fall teil; den Vorsitz im Presbyterium übernehme man nur in Ausnahmefällen. Wichtig sei vor allem, dass alle Verwaltungsaufgaben wegfielen. „Unsere Aufgabe ist auf Verkündigung und Seelsorge konzentriert“, betont sie. „Das ist Segen und Fluch zugleich, denn unser Beruf lebt von Kontakten und Beziehungen, und es hängt ganz einfach von der Gemeinde ab, wie stark man einbezogen wird.“ Der Presbyteriumsvorsitz müsse nur in Ausnahmefällen übernommen werden. Normalerweise aber ist Susanne Stock mit beratender Stimme im Presbyterium vertreten. Seit dem November 2023 hat sie Vertretungspfarrstellen in fünf Gemeinden in den Kirchenkreisen Tecklenburg und Münster übernommen, und zwar in Mettingen, Kattenvenne-Lienen, Münster-Roxel. Münster-Gremmendorf, Telgte und in der Johanneskirchengemeinde in Münster. Momentan arbeitet sie in Lengerich, im Sommer wird sie in Greven eingesetzt und ab Oktober in Tecklenburg. Da die Vertretungspfarrstellen auf den gesamten Gestaltungsraum mit den Kirchenkreisen Münster, Steinfeld-Coesfeld-Borken und Tecklenburg bezogen sind, kann man auch über die Kirchenkreisgrenzen hinaus zum Einsatz kommen. „Man kommt viel herum, und es geht viel übers Land“, erklärt Susanne Stock. „Aber das gefällt mir.“ Gefragt seien Leute mit viel Berufserfahrung, die in der Lage seien, sich schnell zurechtzufinden. So gehöre es etwa manchmal zu den Aufgaben, dass man einen Predigtplan erstellen und die Einteilung der Organisten und Küster vornehmen müsse. „Das ist alles eine Herausforderung, aber glücklicherweise gibt es heutzutage viele Prädikanten, und teilweise muss ich auch auf emeritierte Kolleginnen und Kollegen zurückgreifen.“
In Telgte und in der Friedenskirchengemeinde Gremmendorf war sie zeitweise sogar gleichzeitig. In Roxel, wo sie etwa vier Monate war, habe es ihr besonders großen Spaß gemacht, zu arbeiten, fügt die erfahrene Pfarrerin hinzu. Dort werde der Konfirmandenunterricht im Team gemacht, wie es sie überhaupt sehr erstaunt habe, wie souverän manche Presbyterien mit schwierigen Situationen fertig würden. „Die Presbyterien in Roxel und Gremmendorf haben in der Zeit der Vakanz unwahrscheinliche Kräfte entwickelt und viel in die Wege geleitet“, lobt sie. „Es ist schön, zu sehen, was Ehrenamtliche auf die Beine stellen, wenn man sie lässt.“ Insgesamt befinde sich die Kirche in einer Zeit der riesigen Transformation, in der sich die Frage stelle, wie Gemeinden zukunftsfähig werden könnten. Auf der einen Seite sorge das für viel Aufbruchstimmung und Energie, aber zugleich auch für viel Spannung. In Greven-Reckenfeld, wo es bereits eine Zusammenarbeit über Kirchenkreisgrenzen hinweg mit Emsdetten, Nordwalde, Saerbeck und Altenberge gebe, sei man der Zeit schon voraus. „Das ist der richtige Weg: Wir müssen vor die Entwicklung kommen, denn dann können wir noch etwas gestalten“, fordert Susanne Stock. „Und wir müssen Regionalgemeinden mit einer zentralen Verwaltung bilden.“ Dann bestünde auch mehr Zeit für Verkündigung und Seelsorge, ist sie überzeugt. Darüber hinaus könnten mehr interprofessionelle Teams eine große Hilfe sein. „Ich will den Gemeinden Mut machen, größer zu denken und eine totale Kehrtwende zu machen“, hebt die 61-jährige hervor. „Das Gebäudemanagement wird immer wichtiger, weil 20 bis 70 Prozent der Gebäude nicht mehr finanziert werden können. Auch ökumenisch müssen wir noch viel mehr zusammen machen.“ Darüber hinaus müssten auch die Ehrenamtlichen mit mehr Aufgaben betraut werden. In der Konfirmanden- und Jugendarbeit versuche sie gerade den jungen Leuten, die meinten, sie seien nirgendwo gut, zu zeigen, was an Begabungen und Talenten in ihnen schlummere.
Sie sei angetreten, um den Menschen von Gott zu erzählen und sie zum Glauben zu befähigen, betont die Pfarrerin. Große Sorgen bereitet Susanne Stock die derzeitige Austrittswelle – ausgerechnet in Zeiten, in denen es ihrer Meinung nach so tolle Gottesdienste in den Gemeinden gebe. „Wir erreichen offenbar viele Menschen nicht mehr“, urteilt sie. „Das sollte uns motivieren, noch zeitgemäßer zu werden.“ Im Jahr 2030 wird die Frau, die gern predigt und Gottesdienste hält, aber auch intensiv den Kontakt zu Menschen pflegt, voraussichtlich in Ruhestand gehen. Von Resignation aber ist bei ihr nichts zu spüren. „Denkt größer und seid mutig!“, lautet ihr Rat. Gerd Felder