« Zurück zur Übersicht

Ein Jahr ForuM-Studie – Wie weiter nach dem Doppelpunkt?

Beim Podiumsgespräch im B-Side im Münsteraner Hafen (v.l.): Superintendent Holger Erdmann, die Kriminologin Dr. Charlotte Nieße, Dr. Heike Plaß, Referentin für Erwachsenenbildung, und Prof. Dr. Thomas Großbölting. Foto: Dirk Heckmann

Münster. Zu dieser Fragestellung hat die Evangelische Erwachsenenbildung Münster zusammen mit der Arbeitsstelle Prävention in den Evangelischen Kirchenkreisen Münster und Tecklenburg am 27. Januar zu einem Abend mit dem Zeithistoriker und Projektleiter der ForuM-Studie im Teilprojekt „Evangelische Spezifika“ Professor Dr. Thomas Großbölting in das B-Side im Münsteraner Hafen eingeladen.

Am 25. Januar 2024, also vor fast genau einem Jahr, ist die Studie des Forschungsverbundes ForuM über sexuelle Gewalt durch Mitarbeitende der evangelischen Kirche der Öffentlichkeit präsentiert worden. Die Studie hat offengelegt, dass sexuelle Grenzverletzungen und Missbrauch auch in der Evangelischen Kirche ein großes Thema sind. Es gab ein großes Presseecho vor einem Jahr, Prof. Großbölting verbindet allerdings mit dem Jahrestag die Erwartung, dass die Studie nicht das Ende der Forschung ist. Was fehlt? Die quantitative Forschung zu den Missbrauchsfällen ist unbefriedigend. Hier bestehen noch große Lücken. Hochgerechnet, allerdings nicht belastbar, könnten es bis zu 3.500 Beschuldigte in ganz Deutschland sein.

Zudem fehlt eine genauere Untersuchung des gesamten Umfeldes. „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Es braucht aber auch ein ganzes Dorf, um ein Kind zu missbrauchen,“ so Großbölting in Aufnahme eines Sprichworts zur Erziehung. Hier bedürfe es einer genaueren Analyse. Auch die Pastoralmacht des Klerikers scheint ähnlich ausgeprägt zu sein wie in der Katholischen Kirche. So habe die Studie gezeigt, dass häufig Kinder, die besonders gläubig und so dieser Pastoralmacht ausgeliefert waren, von Missbrauch betroffen gewesen wären.

„Eine Folge der Studie ist, dass wir im Blick auf die Aufarbeitung verstärkt Fachkompetenz von außerhalb der Kirche suchen“, konstatierte Holger Erdmann, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Münster. Auch die EKvW hat bereits einen Schritt in die gleiche Richtung unternommen, indem sie die Kriminologin Dr. Charlotte Nieße zu Beginn dieses Jahres als Leiterin der Fachstelle Prävention und Intervention eingestellt hat.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Kernfamilie der Hotspot sexualisierter Gewalt ist. Das bedeutet, dass die spezifischen Bedingungen der Evangelischen Kirche noch in den Blick genommen werden müssen.

Die Tatsache, dass sich statistisch gesehen die meisten Fälle sexualisierter Gewalt innerhalb der Kernfamilie ereignen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in der Evangelischen Kirche Spezifika gibt, die sexualisierte Gewalt in großem Umfang ermöglicht und begünstigt haben. Die kirchliche Vermeidung von Konflikten (Wir sind ja alle eine Familie) schafft gute Bedingungen für Missbrauch und verhindert Aufklärung. Eine Kirche, die von ihrer Entstehung her schon die Rechtfertigung des Sünders im Blick hat, ist besonders gefordert, das Leid der Betroffenen nicht durch vorschnelle Forderungen nach Vergebung auszublenden.

„Aus Sicht der Betroffenen geht es um eine angemessene Beteiligung an der Aufarbeitung von Missbrauch“, so Nieße. „Dazu wäre es vielleicht angemessen – in der Nachfolge Christi – auf die Einrede der Verjährung zu verzichten“, empfiehlt Großbölting. Öffentlichkeitswirksame Entschuldigungen nach Fällen sexualisierter Gewalt seien wenig hilfreich. Schuld kann in solchen Situationen nicht genommen werden. Es geht um den Umgang mit Schuld. Hinter den Diskussionen um den quantitativen Teil der ForuM-Studie dürfe das Leid der Betroffenen nicht verschwinden. Das bedeutete nämlich, dass sie zum zweiten Mal unsichtbar werden.

Nach einer intensiven Diskussion mit dem Referenten, den Podiumsgästen und dem Publikum lautet das Fazit: Wir stehen in Vielem noch am Anfang, nicht zuletzt im Hinblick auf die theologische Haltung mit Blick auf die urprotestantische Rechtfertigungslehre. Es muss ein perspektivischer Kulturwandel stattfinden, bei dem es nicht allein um Maßnahmen, sondern vor allem um Haltung geht. Das Thema geht jeden und jede etwas an, in allen Arbeitsbereichen von Kirche. Die Forschung ist noch lange nicht zu Ende.