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„Es kommt auf uns an“ – Präses Annette Kurschus sprach auf der zentralen Friedensdemonstration in Berlin

Dr . h.c. Annette Kurschus, Präses der EKvW und Ratsvorsitzende der EKD, auf der Friedensdemonstration am 27.2.2022 in Berlin. Foto: epd-bild/Christian Ditsch

Berlin/Bielefeld. Es ist Krieg in Europa. Aber kein Land, auch kein Volk sei über das andere hergefallen, so Präses Annette Kurschus. „Die verlogene und machtgierige Regierung des einen Landes hat mit blanker Gewalt und gegen alles Recht ihren Soldaten befohlen, ein anderes Land zu überfallen.“

Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland zählte zu den Rednerinnen und Rednern bei der zentralen Friedensdemonstration, zu der am Sonntag viele tausend Menschen zur Siegessäule an der Berliner ‚Straße des 17. Juni‘ gekommen waren, um ihre Solidarität und ihr Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine zu bekunden. Sie forderten die russische Regierung auf, umgehend alle Angriffe auf das Land einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Kriege würden mit Waffen geführt, aber auch mit Worten und Gedanken, so Kurschus, „mit Gerüchten und Lügen, mit falschen Bildern von sich und anderen.“ Die Präses forderte eindringlich dazu auf, präzise im Denken und Reden zu bleiben. „In aller Empörung – wir bleiben dabei: Wir verweigern uns der Verführung zum Hass. Wir verweigern uns der Spirale der Gewalt. Wir werden der kriegslüsternen Herrscherclique in Russland nicht das Geschenk machen, ihr Volk zu hassen“, so Kurschus. Das Spiel der Verfeindung werde man nicht mitspielen.

Für die Kirchen in Deutschland und für die Partnerkirchen in den Staaten Osteuropas stellte die EKD-Ratsvorsitzende klar, man werde laut widersprechen, „wo Gott und der Glaube in diesem üblen Spiel autokratischer Machtlust dienstbar gemacht werden.“ Das Blut, das im Krieg vergossen werde, schreie zum Himmel, so Kurschus. „Gott hört den Schrei, das glaube ich gewiss. Und: Gott hört auch die Stimmen des Friedens.“

Von jedem und jeder seien jetzt Taten gefragt, appellierte Annette Kurschus an die Teilnehmenden der Friedenskundgebung und alle Menschen darüber hinaus. „Es kommt auf uns an, die Worte zu wägen, Unrecht beim Namen zu nennen – und doch nicht zu hassen.“ Sie forderte zudem Solidarität mit den leidenden Menschen in der Ukraine ein, aber auch Achtung für diejenigen, die sich in Russland gegen den Krieg stellten. Und schließlich: „Es kommt auf uns an, den Menschen, die flüchten, zu helfen, ihnen Wege zu öffnen, damit sie ihr Leben retten können, und sie aufzunehmen.“

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Die Rede von Präses Annette Kurschus bei der Friedenskundgebung in Berlin am 27. Februar im Wortlaut:

„’s ist Krieg! ’s ist Krieg!

O Gottes Engel wehre,

Und rede du darein!

’s ist leider Krieg – und ich begehre,

Nicht schuld daran zu sein!

Das schrieb vor fast 250 Jahren Matthias Claudius – und mir ist, liebe Freundinnen und Freunde des Friedens, als schrieb er‘s für uns heute.

`s ist Krieg in Europa. Was so lange undenkbar schien, ist wirklich geworden. Die Wirklichkeit, die uns jetzt einholt, ist brutal. Ein Land ist über das andere hergefallen. Nein, nicht ein Land übers andere. Äcker, Wiesen und Flüsse, die überfallen einander nicht. Sie leiden unter dem Krieg – wie Menschen. Die verlogene und machtgierige Regierung des einen Landes hat mit blanker Gewalt und gegen alles Recht ihren Soldaten befohlen, ein anderes Land zu überfallen. Das ist ein Verbrechen. Die Menschen in der Ukraine werden bombardiert und beschossen. Sie verteidigen sich, suchen zu Hunderttausenden Schutz in Kellern oder sie flüchten aus dem Land, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten.

Und nein, auch ein Volk fällt nicht übers andere her. Die mutigen Demonstrantinnen, die Dichter, die Forscherinnen und die Künstler, alle, die in Moskau aufstehen gegen den Krieg – sie leisten Widerstand. Alle, die jetzt in Russland verrückt sind vor Sorge um das Leben ihrer Lieben, die an die Waffen geschickt werden, auch sie werden überfallen – von  ihrer eigenen Regierung.

Lasst uns präzise bleiben in unserem Denken und Reden. In aller Empörung – wir bleiben dabei: Wir verweigern uns der Verführung zum Hass. Wir verweigern uns der Spirale der Gewalt. Wir werden der kriegslüsternen Herrscherclique in Russland nicht das Geschenk machen, ihr Volk zu hassen. Wir werden das Spiel der Verfeindung nicht mitspielen. Und – das sage ich für die Kirchen in Deutschland und für die Kirchen, mit denen wir in den Staaten Osteuropas verbunden sind – wir müssen überall da laut widersprechen, wo Gott und der Glaube in diesem üblen Spiel autokratischer Machtlust dienstbar gemacht werden.

Die Unmenschlichkeit des Krieges geht so: Menschen lassen Menschen Menschen beschießen. Menschen schießen zurück auf Menschen, um ihr Leben zu verteidigen. Ganz klein und alltäglich fängt das Grauen an: Da sind zwei Kollegen, der eine Russe, der andere Ukrainer. Irgendwo in einer europäischen Stadt teilen sie sich das Büro, sitzen am selben Schreibtisch, tun die gleiche Arbeit. Bis vorgestern. Da bekam jeder seine Einberufung. Die Frau, die sich daran erinnert – ihr bricht die Stimme.

Mir kommt die Erzählung vom Anfang der Bibel in den Sinn, die von Kain und Abel. „Was hast du getan?“, fragt Gott, den Brudermörder. „Was hast du getan? Laut schreit das Blut deines Bruders zu mir vom Erdboden her.“

Das Blut, das in der Ukraine vergossen wird, schreit zum Himmel. Es schreit zum Himmel, wie Menschen, die Brudervölker sind, zu Feinden werden. Wie es Familien zerreißt.

Der Himmel wird nicht taub und nicht stumm bleiben gegen diesen Schrei. Opfern und Tätern wird Recht widerfahren, darauf hoffe und darum bete ich.

Nicht nur das Blut der Getöteten schreit zum Himmel, nicht nur der Angstschweiß der Kämpfenden, nicht nur die Tränen der Flüchtenden. Auch unsere Stimmen der Solidarität steigen auf zum Himmel, auch unsere Gedanken und Gebete, ja sogar unser entsetztes Schweigen.

All das ist unser Echo auf Gottes erschütterte, zornige Frage: „Was hast du getan?“

Auch von uns, von jedem und jeder, sind jetzt Taten gefragt. Und unser Tun zählt.

Kriege werden mit Waffen geführt. Aber Kriege werden auch mit Worten und Gedanken geführt, mit Gerüchten und Lügen, mit falschen Bildern von sich und anderen.

Hüten wir uns zu denken, wir könnten nichts tun! Hüten wir uns zu meinen, es käme auf unsere Worte, Gedanken und Bilder nicht an.

Wo Kriege geführt werden, da kommt es auf Waffen an.

Wo der Frieden werden soll, da kommt es auf uns an.

Es kommt auf uns an, die Worte zu wägen, Unrecht beim Namen zu nennen – und doch nicht zu hassen.

Es kommt auf uns an, den leidenden Menschen in der Ukraine, den verängstigten Menschen in unseren Nachbarländern unsere Solidarität zu zeigen, keine billige, sondern eine, die uns etwas kostet. Es kommt auf uns an, den Menschen in Russland, die sich gegen den Krieg stellen, unsere Achtung zu bezeugen.

Es kommt auf uns an, den Menschen, die flüchten, zu helfen, ihnen Wege zu öffnen, damit sie ihr Leben retten können, und sie aufzunehmen.

Das Blut, das im Krieg vergossen wird, schreit zum Himmel.

Gott hört den Schrei, das glaube ich gewiss.

Und: Gott hört auch die Stimmen des Friedens. Sie werden gehört in den Städten und Dörfern in der Ukraine, in den Städten und Dörfern Russlands, in den Amtsstuben und Sälen des Kreml.

Wir werden gehört in dem einen Himmel, der sich über alle diese Orte spannt.“

Dr. h.c. Annette Kurschus

Vorsitzende des Rates der EKD
Präses der Ev. Kirche v. Westfalen